Ich mag keine Fantasyliteratur. Keine Elfen, Feen, Hexen, Zauberer. Keine sprechenden Tiere, keine gestaltwandelnden Bäume. Und erst recht mag ich keine Insekten. An dieser Stelle verleitet mich die Phobie gar zur lebensfeindlichen Ignoranz. Wo das Meiden der Natur und das Anbringen von Fliegengittern nicht mehr hilft, hilft mir eine Fliegenklatsche. Und zwar eine in jedem Raum. In Reichweite.
Und dann sitze ich, eine 42 Jahre alte hart an der Realität gebaute Person, die Jelineks Liebhaberinnen zu ihrer persönlichen Bibel erkoren hat, da und jubele mit einer Wärmflasche an den Füßen ins Bett eingekuschelt ob einer nonverbal kommunizierenden Kampfhummel namens Primm, fiebere mit einer von Flugangst gequälten Kleefee und möchte mich angesichts der Zärtlichkeiten, die zwei schwule Falken austauschen, mit errötenden Bäckchen abwenden. Man will ja nicht stören.
Was diesen Ausnahmezustand bei mir ausgelöst hat, ist der Debutroman von Heike Pflüger, „Kleefee und Kaninchenritter“, an welchem sie fünf Jahre lang gearbeitet hat. Schon allein wie ich dazu gelangt bin, ihn zu lesen, verrät, dass ich es ursprünglich aus anderen Motiven als jenem der intrinsischen Begeisterung für, ich erwähnte es, sprechende Tiere und verniedlichte Insekten tat.
Harte Themen im fluffigen Gewand: Gaslighting, Narzissmus und psychischer Missbrauch im phantastischen Kontext
Ich bekam vielmehr auf Heike Pflügers Account bei Mastodon mit, dass sie aktuell im Rahmen ihrer Vorbereitung auf ihr nächstes Projekt zum Thema Gaslighting recherchiert. Ich habe mit dem „Mikrodrama“ (noch nicht veröffentlicht) einen Roman zum Thema Gaslighting geschrieben. Also nahm ich Kontakt mit Heike auf, um meine Hilfe anzubieten. Sie nahm diesen Vorschlag an, las mein Manuskript, zeigte sich begeistert, äußerte Interesse an meinem am 23.10.2023 erschienenen Debutroman Paranuit, ich an ihrer von meiner gänzlich abweichenden Arbeitsweise, nämlich jener, harte Themen im fluffigen Gewand zu präsentieren und wir überlegten uns: Warum machen wir das nicht so, dass Heike Paranuit liest und ich ihren Kaninchenritter? Am Ende, so wir einander damit keinen Schaden zufügen, rezensieren wir das Gelesene und sprechen öffentliche Empfehlungen aus. Natürlich nur bei echtem Gefallen und nicht aus Gefälligkeit.
Gesagt, getan. Wir vereinbarten im Vorfeld eine für beide Seiten geltende Abbruchoption. Ich sprach meine im Wissen um die skandalträchtige Härte meines im BDSM-Milieu spielenden Werkes aus und bat meinerseits Heike darum, weil ich, wie ich bereits in der mich auszeichnenden Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht habe, mit (Jugend-)Fantasy nichts anfangen kann. Dafür, mich dann durch 530 Seiten dieser zu quälen, hätte ich mich mit keiner Sympathie der Welt motivieren können.
Auf nach Grünhain!
Was ich jedoch zu meinem größten Erstaunen auch nicht musste. Stattdessen fand ich mich binnen weniger erster Zeilen in einem Zustand der Verzückung. Meine Contenance zum Teufel jagend fing ich an, meinen Bekanntenkreis über die Ereignisse im Buch auf dem Laufenden zu halten. Ungefiltert, ungefragt. Schrieb Dinge wie „Ich rasssste aus, ist! das! geil!“ und erntete Lach-Emojis. Darüber hinausgehende Kommentare zu meinem Geisteszustand verkniff man sich, Begeisterung ob der von mir gezeigten Passagen brachte man hingegen sehr wohl zum Ausdruck. „Auf nach Grünhain!“ wurde zu meinem allabendlichen Jubelruf. Ich ließ ihn gern ertönen. Auch nun diese Rezension zu schreiben ist mir eine vollendete Freude. Ich will nicht weniger als Menschen dazu motivieren, sich sofort und ohne Umwege „Kleefee und Kaninchenritter“ von Heike Pflüger zu kaufen. Auch, wenn es Jugend-Fantasy ist. Scheiß drauf. Das Buch ist der Knaller und Euer inneres Kind wird es Euch danken.
Die Geschichte selbst ist schnell erzählt: Prinzessin Finara von und zu Doldenstaub hat keinen Bock auf die Zwangsheirat mit dem Kaninchenritter Prinz Weißfell. Noch weniger Bock hat sie hingegen auf den sich anbahnenden Krieg, der ihre Heimat, Grünhain, zu zerstören droht. Also macht die wütende Kleefee sich gemeinsam mit ihrer Kampfhummel Primm auf den Weg, um diesen Krieg auf diplomatische Weise zu verhindern. Das Vorhaben gelingt, alle tanzen, Ende.
Diese meine Zusammenfassung offenbart zwar ein weiteres Mal meine von dezenter Herablassung geprägte Abneigung dem Fantasy-Genre gegenüber, aber explizit nicht einmal den Hauch jener in Bezug auf Heike Pflügers Debutroman. Was diese mit „Kleefee und Kaninchenritter“ geschrieben hat, ist ein fantastisch phantastisches Werk, sprühend vor Leben, Kreativität und Detailverliebtheit, positiv und optimistisch, ohne naiv zu sein, dem Umfang zum Trotz ohne jegliche Längen, variabel in der Erzählgeschwindigkeit, wechselnd in den Perspektiven, stimmig bis zur letzten Zeile, ein Werk voller Hoffnung, unterhaltsam, aber nicht platt, putzig, entzückend und phänomenal niedlich, ohne am kindischen Kitsch zu kratzen, klug und mit Weitblick konzipiert, mitreißend erzählt und mit sensationell ausgearbeiten Spielorten. Da sind weiterhin Details, die mich in sprachliches Entzücken versetzt haben, beispielsweise jenes der Ersetzung des Wortes „man“ durch „fee“ („wie man es dreht und wendet“ wird zu „wie fee es dreht und wendet“), die Zeiteinheiten lauten „Blütenzyklen“, „Blütenumdrehungen“ usw. und diverse Flüche haben seit der Lektüre Einzug in meine Alltagssprache gehalten („behummelt“, „ich könnte Pollen kotzen“).
Sprachliche Schönheit
Auch wenn die Geschichte, da es sich um ein Kinder- und Jugendbuch handelt, linear und überschaubar konstruiert ist, habe ich mich zu keinem Zeitpunkt der Lektüre gelangweilt. Dem mir eigenen Impuls, querlesend über die Seiten zu fliegen, weil ohnehin klar ist, was passiert, fiel ich keine Zeile weit zum Opfer. Im Gegenteil: Einige Passagen las ich mehrfach, weil sie so schön sind. So etwas hier, das ist schlicht und einfach pures Erzählgold:
„Sie bemerkte den Schatten auf dem Fenstersims nicht. Zwei elegante lange Löffel zeichneten sich im Mondlicht ab. Sie blieben dort bis zum Morgengrauen.“
Heike Pflüger, „Kleefee und Kaninchenritter“
„Die Postfee fischte einen Zettel und eine Schreibfeder aus ihrer Tasche und schrieb ein paar Zeilen. Ironischerweise war sie die Einzige, die niemals Briefe von anderen bekam. Deshalb spielte sie ein Spiel. Alle paar Wochen notierte sie ein paar Geschichten, die sie gehört hatte, und schickte sie an ihre eigene Adresse. Manchmal gelang es ihr, sich selbst damit zu überraschen. […] Sie war davon überzeugt, dass nur Briefe, die eine Reise erlebt hatten, echte Briefe waren. Sie wollte ihr Spiel noch ein wenig länger genießen, wollte sehen, wie sich ihre Welt verändert hatte, wenn der Brief wieder bei ihr ankam. Dann war er wie eine Botschaft aus der Vergangenheit und sie musste rätseln, was sie sich bei diesem Brief eigentlich gedacht hatte.“
Heike Pflüger, „Kleefee und Kaninchenritter“
Es sind jedoch nicht nur solche Perlen, die mich begeistert haben. Vom ersten Satz an sah ich vor meinem geistigen Auge einem Film zu, den Disney nicht schöner illustrieren könnte, sah Bunterdenfenster, Glühwürmchenleuchter und prunkvoll bestickte Wandteppiche. Endgültig vorbei war es mit meiner Beherrschung, als ich zu jener Stelle kam, an der Einbein seinen ersten Heiltrunk braut. Einbein ist seines Zeichens ein stotterndes Kaninchen mit drei Pfoten und braut besagten Trank unter der Anleitung eines Alchemisten, über dessen Kopf eine Miniaturgewitterwolke schwebt, die sich schließlich zum Schlafen in ihr Körbchen legt und zu schnarchen beginnt. Habt ihr schon einmal eine solche Miniaturgewitterwolke in ihrem Körbchen liegend schnarchen gehört? Nein? Dann lest dieses Buch.
Was ich indes auch hörte, war das leise Klingeln der Kasse ob einer sich mir förmlich aufdrängenden Merchandise-Linie, bestehend aus kleinen Schwertern (Schlüsselanhänger), Plüsch-Stressbällen (Feldhamster Nimrol) und Sammelfigürchen. Und, bei der heiligen Möhrenmaid, ich würde mir den kompletten geilen Scheiß kaufen.
Und nun entschuldigt mich bitte, „kaufen“ war mein Stichwort. Ich muss meine Hummel satteln. Wir wollen nochmal los, Besorgungen auf dem Markt erledigen. Ich habe nämlich von der mutmaßlich kiffenden Postfee gehört, es soll endlich wieder Petersilie geben. Aus regionalem Anbau, keine überteuerte Importware, denn die Böden von Grünhain haben sich dank des neuen Friedens endlich erholt.
Hach, ist das schön.